Welchen Mehrwert bieten Arbeitszeugnisse in der Praxis?

Im Recruiting sprechen wir seit vielen Jahren über die Vereinfachung des Bewerbungsprozesses, um die Candidate Experience positiv zu gestalten. Als Ergebnis dieser Diskussion fordern wir in der Personalgewinnung immer weniger Dokumente von Kandidaten an, damit ihnen die Bewerbung so einfach wie möglich gemacht wird. Oft reicht heute schon ein Lebenslauf, um den Bewerbungsprozess zu starten. Eine Dokumentenart, die zwar häufig nicht mehr zur Prio 1 der Bewerbungsdokumente gehört, aber nach wie vor fester Bestandteil der „vollständigen Bewerbungsunterlagen“ ist, sind Arbeitszeugnisse. Aber welchen Mehrwert bieten Arbeitszeugnisse in der Praxis?

Arbeitszeugnisse enthalten wichtige Informationen für den zukünftigen Job

Eins ist klar: Ein korrekt erstelltes, professionelles Arbeitszeugnis spielt im Bewerbungsprozess nach wie vor eine wichtige Rolle. Eine Bewerbung ohne aktuelles Arbeitszeugnis kann in vielen Unternehmen schnell zum Aus für Bewerber führen. Denn aus Perspektive des Recruiters liefern die im Zeugnis enthaltenen Informationen zu den vorherigen Arbeitsverhältnissen nach wie vor wichtige Aspekte und Hinweise, die für den zukünftigen Job interessant sein können. Hierzu zählen z.B. die detaillierte Aufgabenbeschreibung oder die Einschätzung der beruflichen und sozialen Kompetenzen. Anhand des Arbeitszeugnisses kann das Recruiting daher schon oft eine sinnvolle Vorauswahl der Bewerber treffen.

Aber wie kommen Arbeitszeugnisse eigentlich zu Stande?

Grundsätzlich gilt: Jeder Arbeitnehmer hat einen gesetzlichen Anspruch auf Ausstellung eines Arbeitszeugnisses. Dieses hat einen standardisierten Aufbau. Neben der Aufgabenbeschreibung und der Leistungsbeurteilung gehören dazu auch standardisierte Dankesformeln und wohlmeinende Zukunftswünsche. Der Arbeitgeber ist dazu verpflichtet, das Arbeitszeugnis wohlwollend zu formulieren. Schließlich dient es auch dazu, dem ehemaligen Mitarbeiter die weitere Stellensuche zu erleichtern und nicht mit ihm mittels Zeugnis für viele Jahre Schlechtleistung oder Ungehorsam abzurechnen. Daher lesen sich viele Arbeitszeugnisse auf den ersten Blick sehr ähnlich.

Da sie immer einen positiven Tenor enthalten, könnte man leicht zu der Auffassung kommen, dass ein Arbeitszeugnis heutzutage wenig aussagekräftig ist. Aber: ein Arbeitszeugnis muss zwar wohlwollend, gleichzeitig jedoch auch wahrheitsgemäß erstellt werden. Das kann für die Arbeitgeber in einigen Fällen zu einem Spagat führen. Ein schwieriges Arbeitsverhältnis oder auch eine Unzufriedenheit des Arbeitgebers mit dem Mitarbeiter kann und soll sich trotzdem im Arbeitszeugnis widerspiegeln, denn sonst wäre es tatsächlich nichtssagend und überflüssig.

Geheimcodes im Zeugnis: Die Zeugnissprache drückt Noten verdeckt aus

Daher hat sich eine eigene Zeugnissprache entwickelt. Es handelt sich um eine Art Code, der es dem Personaler erleichtert, aus den Formulierungen im Arbeitszeugnis die Leistungen des Mitarbeiters wie auf einer Notenskala abzulesen. Hinweise, welche Formulierungen auf welche Noten hindeuten, gibt es zuhauf im Internet, so dass es nicht schwer ist, die Nebenbedeutungen im Zeugnis zu entschlüsseln. Doch was ist, wenn ein Arbeitgeber diese geheime Zeugnissprache gar nicht kennt? Schließlich gibt es keine einheitliche Ausbildung von Personalern, die das Erstellen oder Schreiben von Arbeitszeugnissen beinhaltet? Oder was ist, wenn der Personaler im guten Glauben ist, eine wohlwollende Formulierung verwendet zu haben, dem ehemaligen Mitarbeiter unwissentlich aber ein vernichtendes Zeugnis ausstellt? Auch hier gibt es keine Norm oder einen festen Standard, an den sich alle Arbeitgeber halten.

Nachteil von unprofessionell erstellten Arbeitszeugnissen

Gerade in kleineren Unternehmen, die vielleicht gar keine eigene Personalabteilung haben, kommt es häufig dazu, dass die Erstellung eines Arbeitszeugnisses kaum Relevanz hat oder die Ersteller von solchen Dokumenten nicht die notwendige Kompetenz mitbringen. Nicht selten kommt es sogar dazu, das die ausscheidenden Mitarbeiter das Arbeitszeugnis selbst (vor-) formulieren und dem Arbeitgeber einfach nur zur Unterschrift vorlegen. Natürlich würde das niemand öffentlich zugeben, aber so sieht es nun einmal häufig aus. Das ist auch gar kein Vorwurf, sondern völlig nachvollziehbar.

Auch die gesetzlichen Vorgaben und Erstellungsfristen sind häufig nicht bekannt oder werden vernachlässigt. Ein unprofessionelles Arbeitszeugnis ist nicht nur für den Mitarbeiter nachteilig, es kann außerdem auch bei den Nachfolgeunternehmen einen negativen Eindruck hinterlassen. Ein Arbeitnehmer hat in solchen Fällen das Recht, das Arbeitszeugnis entsprechend ändern lassen. Doch die Auseinandersetzung mit Korrekturwünschen bindet Zeit- und Personalkosten und hinterlässt ein unangenehmes Gefühl auf allen Seiten. Nicht selten kommt es trotz einer jahrelang guten Zusammenarbeit an diesem Punkt zu einem Bruch, weil Mitarbeiter und Personalabteilung sich nicht auf bestimmte Formulierungen oder Benotungen einigen können. Um diesen Ärger zu entgehen und den Aufwand so niedrig wie möglich zu halten, nutzen viele Unternehmen sogenannte Zeugnismanager oder Zeugnisgeneratoren.

Wann lesen Recruiter Arbeitszeugnisse?

Die Zeit eines Recruiters für die Sichtung von Bewerbungen ist natürlich begrenzt. Sehr begrenzt sogar. Wie viele Minuten dabei für jede einzelne Bewerbung abfällt, hängt letztlich davon ab, wie viele eingehende Bewerbung ein Recruiter pro Tag sichten kann bzw. muss, wie viele Interviews parallel zu führen sind und welcher Workload insgesamt anfällt. Die Sichtung und Beurteilung einer Bewerbung dauert daher in der Regel nur wenige Minuten und beginnt für gewöhnlich mit dem Lebenslauf. Die allermeisten Bewerbungen werden an dieser Stelle bereits selektiert. Das bedeutet, Recruiter haben in vielen Fällen nicht einen einzigen Blick in Arbeitszeugnis gewagt.

Stimmt die grundsätzliche Qualifikation des Bewerbers und kommt die Bewerbung bis dahin weiterhin in Frage, kommt das Arbeitszeugnis zum ersten Mal zum Einsatz. Neben dem Faktencheck zu Stellentitel und Beschäftigungszeit erhält der Personaler an dieser Stelle ein besseres Bild davon, welche Aufgaben und Tätigkeiten hinter dem angegebenen Stellentitel stecken. Denn je nach Unternehmenskontext und Organisationsgröße gibt es an diesem Punkt massive Unterschiede. Nehmen wir das Beispiel des Projektmanagers – zu diesem Stellentitel gibt es vermutlich unzählige Varianten, wie dieser inhaltlich ausgestaltet wird und das Arbeitszeugnis liefert die notwendigen Informationen um welche Art eines Projektmanagers es sich handelt. Das Arbeitszeugnis dient also bis zu diesem Punkt der Verifizierung sowie Qualifizierung von Daten aus dem Lebenslauf.

Welchen Wert hat die Beurteilung der sozialen und fachlichen Kompetenzen?

Recruiter lesen das Arbeitszeugnis in der Regel also erst, wenn der Lebenslauf interessant genug ist. Wenn man sich dann zurück erinnert, wie sehr man mit seinem alten Arbeitgeber um jede Formulierung gekämpft hat, ist dieser Umstand eher ernüchternd. Dazu kommt außerdem noch, dass das Arbeitszeugnis wahrscheinlich nicht gelesen wird, wenn die Bewerbung unzählige Dokumente enthält, die die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen ablenken. Sei’s drum. Gehen wir also einfach davon aus, dass Recruiter Arbeitszeugnisse mit großem Interesse und der notwendigen Fachkompetenz lesen.

Welchen Wert hat dann die (indirekte) Benotung der sozialen und fachlichen Kompetenz? Schließlich kennen Recruiter nicht die Hintergründe, wie das Zeugnis zu Stande gekommen ist. Ist die Bewertung neutral zu Stande gekommen? Wurde der Mitarbeiter nur positiv bewertet, weil er sich mit dem Zeugnisersteller gut verstanden hat? Wollte der ehemalige Arbeitgeber dem Mitarbeiter mit einer schlechteren Bewertung (ungerechtfertigterweise?) nur die Quittung geben? Wer hat den Mitarbeiter überhaupt beurteilt? Die direkte Führungskraft? Welche Kompetenz zur Beurteilung von Mitarbeitern war im ehemaligen Unternehmen vorhanden? Sind die Beurteilungskriterien vergleichbar mit den Maßstäben in meinem Unternehmen? Viele Fragen, die bei der Beurteilung einer Bewerbung kaum beantwortet werden können.

Ich plädiere daher grundsätzlich dafür, Arbeitszeugnisse bei der Selektion von Kandidaten immer mit Vorsicht zu genießen, sich auf die Tätigkeitsbeschreibung zu beschränken und der Beurteilung nicht zu viel Gewicht zu geben.

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